Buddhistische Gemeinschaft Schweiz

 



Vesakh  - die Feier von Geburt, Erleuchtung und Tod Buddhas

Zusammenfassung der Vesakh-Ansprache vom 30. Mai 2010 von Dr. Rolf Hafner im Zurich Buddhist Vihara in Lenzburg (nach einem Vortrag von Prof. Karl Henking, ehemaliger Direktor des Völkerkundemuseums Zürich)

In der Vollmondnacht des Monats Mai kommen rings um die Erde Buddhisten zusammen, um drei Ereignissen zu gedenken: Der Geburt des Prinzen Siddharta, seiner Erleuchtung zum Erwachten, zum Buddha, und dessen Verwehen im Parinirwana. Das Wesentliche ist die Erleuchtung. Durch sie wurde der Mensch Siddharta zum Buddha, das heisst zu dem umfassenden Wesen, das zur vollständigen Wirklichkeit erwacht ist und daher mit Klarblick Wesen und Sinn des menschlichen Daseins durchschaut.

Was aber geschah eigentlich während der Erleuchtung? Im Palikanon von Sri Lanka, der ältesten vollständig erhaltenen Sammlung von Lehrreden des Buddha, wird das an verschiedenen Stellen beschrieben.

In der Lehrrede über das rechte Forschen sagt Buddha selbst: „Und mir, der ich selber der Geburt, dem Alter, der Krankheit, dem Tod, dem Leiden und dem Nichtwissen unterworfen war, ward die wahre Erkenntnis zuteil. Und ich erblickte nun in dem, was der Geburt, dem Alter, der Krankheit, dem Tod, dem Leiden, dem Nichtwissen unterliegt, das Elend. Nach dem Ungeborenen, nicht Alternden, von Krankheit, Tod, Schmerzen und Unklarheit Freien, Unvergleichlichen, dem Freiwerden vom Tun, nach dem Nirwana forschend erlangte ich das Ungeborene, nicht Alternde, von Krankheit Freie, Todlose, von Schmerzen Befreite, das Reine, das Unvergleichliche, das Nirwana.“

Ebenfalls sagt Buddha selber über seine Erleuchtung in einer anderen Lehrrede, nämlich der berühmten ersten Lehrrede über die vier edlen Wahrheiten im Gazellenhain von Sarnath, folgendes: „Es eröffnete sich mir die innere Schau, das Erkennen entstand, das Verstehen wurde mir zuteil, ich erlangte das Wissen und die Einsicht offenbarte sich so: Fürwahr, dies ist die edle Wahrheit: Das Entstehen des Leidens muss verlassen werden, das Vergehen des Leidens muss bewirkt werden, der Pfad, der zur Auflösung des Leidens führt muss geschaffen werden.

Was erlernen wir aus diesen Berichten? Erstens, dass die Erleuchtung des Buddha nicht ein Ereignis war, das blitzartig einschlug, sondern ein Vorgang, der sich entfaltete. Zweitens lernen wir, dass dieser Vorgang in zwei  Phasen geschah. In der ersten Phase erkannte der Buddha die wirkliche Natur des menschlichen Daseins als leidbehaftet und den Weg zur Befreiung davon. Diese Einsicht verkündete er später in der Lehre von den vier edlen Wahrheiten. In der zweiten Phase wurde ihm der innere existentielle Zusammenhang aller Erscheinungen durchschaubar. Diesen Zusammenhang nannte er das „Gesetz des Entstehens in Abhängigkeit“.

Nach heutigen Begriffen müssten wir sagen: In der ersten Phase wurde dem Prinzen Siddharta die Realität der menschlichen Existenz analytisch sichtbar; in der zweiten Phase erschaute er in der Synthese die Konditionalität der Phänomene. Durch dieses doppelte Durchschauen der Wirklichkeit in Analyse und Synthese wurde der Prinz Siddharta zum Erwachten, zum Buddha.

In der Lehre von der Realität und in der Lehre von der Konditionalität ist nun aber, zwar auf den ersten Blick verborgen, dann aber deutlich eine dritte Lehre enthalten, die Lehre von der Substanzlosigkeit. In den Texten des Palikanon wird sie an-atta, in Sanskritschriften an-atman bezeichnet und im Deutschen zumeist mit Nicht-Selbst übersetzt. Um was geht es dabei? Es geht um die Frage, ob in der Persönlichkeit des Menschen etwas Wesenhaftes sich finde, das die Charakteristika des menschlichen Daseins, nämlich Vergänglichkeit, Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit nicht aufweist, sondern sich als beständig, todlos und unvergänglich erweist, das heisst Substanz enthielte. Nichts dergleichen ist nach der Lehre der Realität und nach der Lehre der Konditionalität empirisch weder in der Persönlichkeit des Menschen noch in seinem Dasein festzustellen. Demnach besagt diese dritte Lehre von der Substanzlosigkeit, dass weder durch die Analyse der Daseinsfaktoren noch in der synthetischen Schau der Phänomene eine Substanz, ein Selbst im absoluten Sinn erkennbar ist. Ob im absoluten Sinn ein solches besteht, wird gar nicht untersucht; einerseits weil es sich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen als einem endlichen Wesen entzieht, und andererseits weil es dem Buddha um die konkrete praktische Leidbehaftetheit des Menschen, um die Empirie des Daseins hier und jetzt in dieser Welt geht. Deshalb wird die Frage eines eventuellen absoluten Selbst nicht diskutiert, wie denn überhaupt die Transzendenz nicht in die Lehren des Buddha einbezogen wird.

Die drei Lehren, die Lehre von der Realität, die Lehre von der Konditionalität und die Lehre von der Substanzlosigkeit, sind die drei Grundthemen der ältesten uns überlieferten Lehren des Buddha und sind es in allen seither entstandenen buddhistischen Lehrtraditionen geblieben. Demnach enthält die Lehre des Buddha drei Bereiche: Erstens eine Philosophie des menschlichen Daseins, zweites eine psychologische Deutung des Menschseins und drittens eine praktische Anleitung zum Leben in den Bedingtheiten dieser Welt, wie Buddha sie in der Lehre vom achtfachen Pfad verkündet hat.

Diese Lehre vom Menschen und seinem Dasein ist in ihren Grundlagen vor rund 2550 Jahren entstanden. Ist sie noch immer aktuell? Denken wir kurz darüber nach: 

In der Philosophie des Buddha vom menschlichen Dasein ist der Leitgedanke die Belastung des Menschen durch Leidenserfahrung. Das können auch heute noch alle aus der eigenen Lebensgeschichte bestätigen: Worin aber ist dies Leidensbelastung begründet? In der Konditionalität des Daseins, lautet die Antwort, in der Tatsache, dass alles, was in dieser Welt besteht, nur unter bestimmten Bedingungen entstanden ist und auch wieder vergeht. Das Eingeordnetsein in ein Netz von gegenseitig aufeinander bezogenen Bedingungen ist ein Grundgesetz allen Lebens in diesem Universum. Das gilt auch für den Menschen. Solche Bedingtheit verursacht einerseits Unsicherheit und Angst, andererseits die Sehnsucht nach Beständigkeit und Ewigkeit. So ist der Mensch ständig zwischen Extremen hin- und hergerissen. Das ist eine existentielle Tragödie. Die Daseinsphilosophie des Buddha löst diese Tragödie nicht auf, sie verdrängt sie aber auch nicht, sondern sie schärft den Geist, so dass der Mensch fähig wird, die Hintergründe seiner Daseinstragödie mit klarem Blick zu durchschauen, oder, wie viele Texte es formulieren, „die wahre Natur der Dinge zu erkennen“. Dabei kommt heraus, dass die Ursache der Tragödie im Menschen selbst liegt, nämlich in bestimmten Intentionen, die ihn antreiben. Die Lehrtexte nennen diese Intentionen unmissverständlich. Es sind das Begehren, das Ablehnen und der falsche Wahn oder in der prägnanten Kurzformel Gier, Hass und Verblendung. Daraus entsteht letztlich jegliches Leiden. Dabei ist das Begehren in allen seinen Formen besonders gewichtig. In einer Lehrrede sagt der Buddha: „Welches Leid auch immer in der Vergangenheit war, ob es heute besteht oder erst entstehen wird, das alles hat seine Wurzel, seine Grundlage im Begehren. Denn die Begierde ist die Wurzel des Leides.“ Niemand, der die vielen Leiden, denen wir unterworfen sind, analytisch durchschaut, wird diesen uralten Satz als nicht mehr aktuell ablehnen.

Soweit einige Hinweise auf die Grundlinie der Daseinsphilosophie des Buddha. Seine psychologische Deutung des Menschen setzt ebenfalls bei der Bedingtheit an, beruht also auf der zweiten Phase seines Erleuchtungsvorganges, freilich verbunden mit der Erkenntnis der Zusammensetzung der menschlichen Persönlichkeit auf fünf Daseinsfaktoren, einer Erkenntnis aus der ersten Phase des Erleuchtungsvorganges. Darin versteht der Buddha die menschliche Persönlichkeit nicht als eine in sich geschlossene Entität, sondern als ein ständig sich veränderndes System von ebenfalls ständig veränderlichen Bestandteilen, die in ebenfalls fortwährend veränderbaren wirkungszusammenhängen stehen. Die menschliche Person wird also ausgesprochen dynamisch gesehen. Diese Dynamik hat zwei Seiten. Auf der einen Seite hat der Mensch als ein dynamische, das heisst offenes System nichts unveränderbar Ewiges in sich, keine absolute Substanz, ist an-atta oder an-atman, Nicht-Selbst, wie die Texte es ausdrücken. Auf der andern Seite ermöglicht diese Nicht-Selbstheit Veränderung und Entfaltung. Hier setzt die Methode der praktischen Lebensführung an, wie der Buddha sie in der ersten Phase seiner Erleuchtung erkannt und in der vierten der vier edlen Wahrheiten, in der Lehre vom achtfachen Pfad nämlich, verkündet hat. Dieser Pfad, bzw. diese Lebensmethode weist drei Teile auf. Sie werden als „Weisheit“, „Lebensführung oder Ethik“ und „Versenkung“ bezeichnet. Sie sind die drei Säulen der buddhistischen Lebenspraxis. Was bedeuten sie? Weisheit bedeutet, sich der Vergänglichkeit alles Gewordenen und damit auch seiner eigenen Unbeständigkeit stets voll bewusst eingedenk zu sein. Lebensführung bedeutet, so zu denken, so  zu reden und so zu handeln, dass jedes Lebewesen in seiner Entfaltung zum Nirwana, der vollen Befreiung von Samsara gefördert wird. Und Versenkung bedeutet, seinen Geist in stetem Bemühen so zu üben, dass er letztlich die wahre Natur, die wahre Wirklichkeit aller Erscheinungen mit klarem Blick zu durchschauen vermag.

Diesen alles durchdringenden Klarblick gewann der Prinz Siddharta in der Vollmondnacht der Erleuchtung und wurde so zum Erwachten, zum Buddha. Er ist nicht der Einzige, denn in jedem Menschen befindet sich grundsätzlich die Begabung zum Erwachen. Doch diese Begabung muss geweckt und entfaltet werden. Dazu schenkt uns die Lehre des Erwachten Anweisung und Wegleitung. Dem, der ihr folgt öffnen sich Klarheit, Freiheit und Glück. Wer erwacht, erfährt Freiheit, Freiheit auch von Ideen, Bildern, philosophischen und religiösen Doktrinen. Das ist das Wesen von Freiheit.